“Die Möglichkeiten des Bestehenden erkennen”

Teil 19 der Plateau RED-Reihe „Inspirierende Persönlichkeiten der Architektur“

Anne Lacaton
(*1955 in Saint-Pardoux, Frankreich)
Französische Architektin und Hochschullehrerin

Jean-Philippe Vassal
(*1954 in Casablanca, Marokko)
Französischer Architekt und Hochschullehrer

Bild: „Tour Bois le Prêtre“ von Frédéric Druot. Lizenz: The Pritzker Architecture Price

Das französische Architekten-Duo Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal hat den Pritzker-Preis 2021 gewonnen. „Indem sie die Verbesserung des menschlichen Lebens durch eine Perspektive der Großzügigkeit und Benutzungsfreiheit priorisieren, sind sie in der Lage, dem Individuum sozial, ökologisch und wirtschaftlich zu nützen, und der Entwicklung einer Stadt zu helfen“, heißt es in der Begründung der Jury.

Anne Lacaton (*1955 im französischen Saint-Pardoux) und Jean-Philippe Vassal (*1954 im marokkanischen Casablanca) lernten sich in den 70er Jahren während des Architekturstudiums in Bordeaux kennen und gründeten Anfang der 80er Jahre ein gemeinsames Architekturbüro in Paris. Über die Jahre waren beide Architekten als Gastprofessoren an diversen Universitäten in Europa und den USA tätig. Lacaton ist seit 2017 fest angestellte Professorin an der ETH Zürich und Vassal seit 2012 an der UDK Berlin. Für ihre Projekte im Bereich bezahlbarer Wohnraum gewannen sie 2021 nun den renommierten Pritzker-Preis.

Abriss ist oft Verschwendung

Was die Arbeitsweise der französischen Architekten besonders macht, ist ihr Grundsatz, nichts abzureißen. „Es gibt zu viele Abrisse von existierenden Gebäuden, die nicht alt sind, noch ein Leben vor sich haben und noch nicht ausrangiert werden müssen“, sagt Lacaton der New York Times. „Wir glauben, dass das eine zu große Verschwendung von Materialien ist. Wenn wir genau hinschauen, wenn wir die Dinge mit frischem Blick sehen, gibt es immer etwas Positives, das man aus einer bestehenden Situation mitnehmen kann.“

Deshalb ist ihr Spezialgebiet, bereits bestehende Gebäude einer neuen Funktion zuzuführen. Gleichzeitig streben sie danach, die Erinnerung an die ursprüngliche Substanz zu bewahren. Dieser Grundsatz macht ihre Projekte nicht nur günstiger, sondern auch umweltfreundlicher. Sie achten auch stets darauf, genug Freiräume zu lassen, um der Kreativität der Bewohner Luft zu lassen.

Gelungene Transformationen

Gemeinsam haben die beiden Architekten an mehr als 30 Projekten in Europa und Afrika gearbeitet. Zu einigen ihrer bekanntesten Werke gehören

Bild: „Schule der Architektur in Nantes, Frankreich“ von Philippe Ruault. Lizenz: The Pritzker Architecture Price

die 2009 gebaute Schule der Architektur in Nantes, Frankreich; deren offene, flexible Struktur bietet eine große Wandlungsfähigkeit und eröffnet vielfältige Möglichkeiten für zukünftiges Wachstum. Ein weiteres Beispiel ihrer Arbeit ist der Umbau des 17-stöckigen Pariser Wohnhauses „Tour Bois le Prêtre” aus den 1960ern. Durch eine radikale Öffnung der Fassade und die Erweiterung des Wohnraums durch umlaufende Balkone konnten Lacaton und Vassal zusammen mit Frédéric Druot den Wohnturm 2011 vor dem Abriss bewahren. Bereits 2010 wurde das Projekt im Museum of Modern Arts in New York ausgestellt. Ein weiteres Highlight ist der Aus- und Umbau des Ausstellungsgebäudes „Palais de Tokyo“ in Paris im Jahr 2012. Die Überreste des Gebäudes, welches 1937 die Weltausstellung beherbergte, bilden den Grundstein für das renommierte Museum für zeitgenössische Kunst.  In einem weiteren vielbeachteten Projekt transformierten die Architekten 2017 etwa 530 Sozialwohnungen in Grand Parc, Bordeaux, ohne dass die Anwohner ihr Zuhause verlassen mussten. Für diese architektonische Meisterleistung erhielten Lacaton & Vassal 2019 den angesehenen Mies van der Rohe Award.

Bild: „Palais de Tokyo @ Paris“ von Guilhem Vellut. Lizenz: CC BY 2.0

Die bodenständige und menschenorientierte Perspektive des Duos regt zum Nachdenken an und verdient öffentliche Aufmerksamkeit in einer Zeit, in der zumeist spektakuläre Neubauten im Fokus stehen. „Wir sehen das Vorhandene nie als Problem. Wir schauen mit positiven Augen, weil es eine Möglichkeit gibt, mehr aus dem zu machen, was wir bereits haben. Wir sind an Orte gegangen, an denen Gebäude abgerissen worden wären, und haben Menschen getroffen, Familien, die an ihrem Wohnraum hängen, auch wenn die Situation nicht die beste ist. Meistens waren sie gegen den Abriss, weil sie in ihrer Nachbarschaft bleiben wollten. Es ist eine Frage der Sensibilität“, meint Vassal.

hg

Weitere Infos: https://www.pritzkerprize.com/laureates/anne-lacaton-and-jean-philippe-vassal