Baukunst ist Ingenieurskunst

„Den Möglichkeiten sind nur durch unsere Vorstellungskraft Grenzen gesetzt. Denn was immer wir erträumen, können Ingenieure Wirklichkeit werden lassen.“ Sagt Roma Agrawal, Autorin des Buches „Die geheime Welt der Bauwerke“.

Warum U-Bahnschächte nicht einstürzen, Brücken halten, Straßen keine Kloaken mehr sind und Wolkenkratzer nicht schwingen wie Grashalme: das und vieles andere haben wir der Kunst der Ingenieure zu verdanken. Roma Agrawal hat darüber ein mitreißendes Buch geschrieben.

„Die geheime Welt der Bauwerke“ handelt davon, was Bauwerke im Innersten zusammenhält. Agrawals Ausführungen über Bauphysik, Statik und Konstruktion, über Zug- und Drucklasten, Reibung, Tragwerke, Pfahlgründungen und Schwingungstilger können auch Leser nachvollziehen, die normalerweise bei Physik, Mathematik und Technik vor allem Bahnhof verstehen. Auch das ist Kunst: Schreibkunst.

Bild: „The Shard“ von Jonathan. Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

Roma Agrawal ist selbst Bauingenieurin, studierte Physikerin, Mitte 30, lebt und arbeitet in London. Sie hat eine Hängebrücke für Fußgänger über die Autobahn in Newcastle geplant, leidet an Höhenangst – und ist Spezialistin für Wolkenkratzer. So hat sie beispielsweise an dem mit 301 Metern zurzeit höchsten Bauwerk Westeuropas, dem Londoner Hochhaus The Shard, als Mitglied des Konstruktionsteams mitgebaut.

Londons Abwässer, römischer Beton, der perfekt proportionierte Ziegel

Ihr Buch ist eine so kenntnisreiche wie unterhaltsame Geschichte des Bauens, der ingenieurtechnischen Meisterleistungen von den Anfängen bis heute. Besonders charmant: die Gliederung nach Motiven, darunter Baumaterialien, Elemente, Bauaufgaben. So kann die Autorin frei zwischen Zeiten und Bauwerken umherwandern und erspart dem Leser eine einschläfernde Chronologie. Die Kapitel heißen zum Beispiel Ton, Wasser und Hohlraum. Oder Schmutz. Letzteres handelt davon, was unter unseren Füßen in unterirdischen Tunnelsystemen fließt: Fäkalien, Abwässer. Dabei geht es insbesondere um das Wohl und Wehe der Londoner Kanalisation. Noch im 19. Jahrhundert waren die hygienischen Zustände in der Stadt katastrophal – bis der Ingenieur Joseph Bazalgette kam und Abhilfe schaffte. Die von ihm und dem Architekten Charles Henry Driver geplanten Pumpenhäuser sind zudem „kathedralengleiche Meisterwerke der spätviktorianischen Baukunst“, befindet Agrawal. Heute ist es aufgrund neuer Herausforderungen mit dem Londoner Abwassersystem nicht zum Besten bestellt – doch die Ingenieure sind dran!

Faszinierendes begegnet auf Schritt und Tritt. Wir erfahren, dass bereits die bronzezeitliche Induskultur 2900 v. Chr. Bauten aus im Ofen gebackenen Ziegeln schuf. Und dass diese Ziegeln die perfekte Proportionen von 4:2:1 hatten – genau dieses Format wird auch heute verwendet. Oder die Kuppel des Pantheons: Sie besteht aus Tonnen antiken Betons.

Bild: Pantheon Rom. Lizenz: CC0 1.0

Denn es waren die Römer, die den Beton erfunden haben, mithilfe einer Asche aus der Umgebung des Vesuvs. Überhaupt, Beton! Wir erfahren, dass die Autorin ein Faible für dieses Material hat und dass sie es liebt, wenn ihre Hände darüber streichen. Und wie ein französischer Gärtner im 19. Jahrhundert den Stahlbeton erfunden hat. Wir lernen, welches seine bestechenden Vorteile sind. Und welches seine Nachteile: Die Fertigung von Stahlbeton ist ein großer CO2-Verursacher.

Wer nicht lesen will, kann hören

Das Buch ist inzwischen auch als Hörbuch erschienen, begleitet von einem Booklet mit liebenswerten Zeichnungen, die bauwissenschaftliche Grundprinzipien veranschaulichen. Ein Sachbuch über Bautechnik ausschließlich über das gesprochene Wort zu vermitteln: Diese Herausforderung meistert die Sprecherin Luise Helm exzellent. Sie spricht den Text frisch, perfekt intoniert und in einem animierenden Tempo. So kann man fasziniert zuhören und gut folgen. Wer also keine Zeit zum Lesen hat, der kann das Buch hören, beim Autofahren, beim Wohnungputzen – oder beim Brückenbauen.

 

Verlag

Buch:
Carl Hanser Verlag, München 2018
ISBN 9783446260306
Gebunden, 352 Seiten, 24,00 EUR

Hörbuch:
speak low (Verlag), 2019
978-3-940018-57-1 (ISBN)